Precision Nutrition: „Das Paleo Problem“

Eine Betrachtung der Vor- und Nachteile der Paleo Ernährung

Originaltext: Brian St. Pierre für Precision Nutrition

Soweit du nicht wirklich in einer Höhle gelebt hast, hast du vermutlich schon viel von der Paleo- oder auch Höhlenmenschenernährung gehört. Vielleicht hast du sie sogar ausprobiert. Ein wenig Fleisch hier, ein bisschen frischen Gemüse dort. Vielleicht hast du auch auf Getreide und auf stark verarbeitete Lebensmittel verzichtet. Es ist in jedem Fall eine coole Idee, die emotional anspricht. Aber ist es auch gesund? Und funktioniert es? Das wollen wir in diesem Artikel beleuchten.

Was wir abdecken:

In diesem Artikel bekommst du zunächst eine ausführliche Vorstellung der Paleo Ernährung.

Zuerst:

Werden wir definieren, was genau “Paleo” meint.

Wir erklären, was an Jäger-Sammlern besonders ist.

Wir schauen uns an, was Paleo-Esser tatsächlich tun.

Dann betrachten wir die Konzepte und die wissenschaftlichen Grundlagen kritisch.

Was verspricht Paleo?

Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse unterstützen Paleo?

Was steckt hinter unseren gesundheitlichen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts?

Ist die Paleo Ernährung wirklich steinzeitlich?

Was sagt unser Verdauungstrakt uns?

Schließlich gibt es das wichtig Fazit: Was solltest DU mit dieser Information anfangen?

Paleo definiert

The Paleo, oder auch Primal, Ernährung basiert auf zwei grundlegenden Vorstellungen.

1. Wir sind evolutionär angepasst, bestimmte Lebensmittel zu essen.

2. Um gesund, stark und fit zu bleiben und um Zivilisationskrankheiten vorzubeugen, müssen wir wie unsere Vorfahren essen.

Eine kurze Geschichte des Essens

Unsere ältesten Verwandten, die frühen Primaten, lebten vor mehr als 60 Millionen Jahren. Und, genau wie die heutigen Primaten, lebten sie hauptsächlich von Obst, Gemüse und Insekten. Vor ca. 2.6 Millionen Jahren, zu Beginn der paleolithischen Ära, begannen die Dinge sich zu ändern.

Unsere frühen menschlichen Vorfahren begannen, mit opponierbaren Daumen herumzulaufen und unser größeres Gehirn entwickelte sich. Sie begannen, Steinwerkzeuge und Feuer zu benutzen und änderten, daraus resultierend, allmählich ihre Ernährung.

Als vor etwa 50.000 Jahren der moderne Mensch die Bühne betrat, lebte er eine omnivore Jäger-Sammler Ernährung.

Die grundlegende Paleo Ernährung

Und so gelangen wir zu einem Modell der Paleo Ernährung, welches das folgende beinhaltet: Tiere (Fleisch, Fisch, Reptilien, Insekten usw. – und, normalerweise, sämtliche Teile dieser Tiere inklusive Organe, Knochenmark, Knorpelgewebe), Produkte tierischen Ursprungs (etwa Eier oder Honig), Wurzeln, Knollengemüse, Blattgemüse, Blumen und Stengel (oder, in anderen Worten, Gemüse), Obst, sowie Nüsse und Samen, die roh gegessen werden können.

In jüngerer Zeit haben Paleo Befürworter Neulingen geraten, zunächst mit eben dieser Auswahl zu beginnen und dann allmählich Milchprodukte von Tieren aus Weidehaltung (v.a. Yoghurt und andere fermentierte Optionen), sowie kleine Mengen “richtig zubereiteter” Hülsenfrüchte (also über Nacht in Wasser eingelegt) hinzuzufügen.

Was ist das besondere an Jägern und Sammlern?

Vor ca. 10.000 Jahren wurde in großen Teilen der Welt die Landwirtschaft “entdeckt”. Diese stellte eine relativ verlässliche Quelle von Nahrungsmitteln dar – ohne welche sich unsere Zivilisation niemals hätte entwickeln können. So bewegten wir uns vom paleolithischen ins neolithische Zeitalter. Jedoch stellt dieser Zeitraum von etwa 10.000 Jahren seit diesem Übergang lediglich 1% der Zeit dar, die wir Menschen auf diesem Planeten zugebracht haben.

Viele Leute glauben, dass der Wandel von der Jäger und Sammler Ernährung (mit hohem Anteil an Früchten und Gemüse) zu der landwirtschaftlich geprägten Ernährung (reichhaltig an Getreide) verantwortlich ist für moderne Zivilisationskrankheiten wie Übergewicht, Diabetes und Herzkreislauferkrankungen (Metabolic Syndrome). Dies ist ein wichtiger Pfeiler der Paleo Ernährung und ein wichtiger Grund, warum Befürworter sagen, wir sollten zurückkehren zu der auf Fleisch und frischen Pflanzen basierenden Ernährung.

Wie ergeht es Paleo Essern?

Natürlich haben wir, trotz vieler Knochenfunde, erhaltener Kochstätten und anderer Anhaltspunkte keine detaillierten medizinischen Berichte über unsere Jäger-Sammler Vorfahren. Jedoch haben wir immer noch lebende “Beispiel” Populationen, die wir betrachten können.

Eine vielfältige Ernährungswelt

Die sehr wenigen immer noch lebenden Jäger-Sammler Völker existieren auf Grundlage einer Vielzahl verschiedener Ernährungsformen; von den nuss- und samenlastigen afrikanischen !Kung, über die wurzelgemüselastigen Kitava bis hin zu den Fleisch und Fett liebenden Inuit in der Arktis. Diese ursprünglichen Ernährungsformen sind sehr unterschiedlich und spiegeln vermutlich die stark variierenden Ernährungsarten unserer prehistorischen Vorfahren wider, einfach, weil Menschen in Abhängigkeit von ihrer Umgebung aßen: Vorwiegend pflanzenbasiert in den Tropen, vorwiegend tierbasiert in den arktischen Gebieten und sämtliche Mischformen dazwischen.

Wie unterschiedlich auch immer die Ernährungen der paleolithischen Menschen quer über den Planeten waren, sie aßen vermutlich drei mal mehr Obst und Gemüse als wir das heute tun.

Und verglichen mit dem heutigen westlichen Menschen, aßen die unsere paleolithischen Vorgänger mehr Ballaststoffe, mehr Protein, mehr Omega–3 Fettsäuren, mehr ungesättigte Fetten, mehr Vitamine und Mineralstoffe, sowie deutlich weniger gesättigte

Fette und Natrium.

Ein modernes Beispiel

Die Bewohner der Kitava Insel, nahe Papua Neu Guinea, sind vermutlich die am meisten erforschte moderne Jäger-Sammler Gesellschaft. Laut Dr. Staffan Lindeberg, der ihre Lebensweise extensiv erforschte, leben die Kitavas ausschließlich von: Stärkehaltigem Wurzelgemüse (Süßkartoffeln, Jamswurzeln, Taro, Tapioka), Obst (Bananen, Ananas, Mango, Guaven, Wassermelone, Kürbis), Gemüse, Fisch und Meeresfrüchten, sowie Kokosnüssen. Kitavas sind gesund und unanfällig, frei von Fettleibigkeit, Diabetes, Herzerkrankungen, Schlaganfällen oder Akne – und das obwohl die meisten von ihnen rauchen! Zu essen wie ein Höhlenmensch scheint sich also grundsätzlich zu lohnen.

Was Paleo verspricht

Die Hauptidee der Paleo Ernährung ist, dass unser genetisches Erbe schlecht für das moderne 21. Jahrhundert, unsere Ernährung und unsere Lebensweise, geeignet ist. Deshalb leidet unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden.

Die Paleo Ernährung operiert mit einigen weiteren evolutionär argumentierenden Schlüsselannahmen: Paleolithische Jäger-Sammler waren gesund und unanfällig; wenn sie nicht jung durch Unfälle oder ansteckende Krankheiten starben, lebten sie ungefähr so lange, wie wir das heute tun. Als die Jäger-Sammler zur Landwirtschaft übergingen, wurden sie im Vergleich kranker, kleiner und schwächer. Moderne Jäger-Sammler leben gesund, und ihre Gesundheit verschlechtert sich, sobald sie zur westlichen Ernährung übergehen.

Was sagt die Wissenschaft?

Während durchaus vieles für diesen evolutionären “Verfall” spricht, kann tatsächlich nicht behauptet werden, Jäger-Sammler wären ein Paradebeispiel für Gesundheit gewesen. Zum einen beherbergten sie sicher diverse Parasiten. Außerdem waren sie Opfer verschiedener ansteckender Krankheiten. Weiterhin untersuchten Forscher im Rahmen einer aktuellen Studie in The Lancet 137 Mumien aus Gesellschaften der ganzen Welt – von Ägypten über Peru, den Südwesten Nordamerikas bis zu den Aleuten – und suchten nach Anzeichen von Artheriosklerose. Sie fanden Anzeichen für wahrscheinliche oder sichere Artheriosklerose in 47 der 137 Mumien, unabhängig davon, ob diese Menschen Bauern, Nomaden oder Jäger-Sammler waren. Alle wiesen artherielle Verhärtungen auf, unabhängig von der Lebensweise. Zumindest eine Anregung zum Nachdenken.

Zivilisationskrankheiten

Während Artheriosklerose also eventuell ein allgemeines menschliches Phänomen ist, ist die Häufigkeit von Zivilisationskrankheiten (Herzkreislauferkrankungen, Diabetes, Übergewicht) mit Sicherheit dramatisch während der letzten 50 Jahre angestiegen. Insbesondere verglichen mit nicht industrialisierten Gesellschaften.

Über das letzte Jahrhundert, also eine Zeitspanne, die definitiv für signifikante genetische Anpassung zu kurz ist, haben Industrialisierung und Technologisierung die Art wie wir leben und essen einschneidend verändert. Der durchschnittliche Amerikaner lebt heute vor allem von Essen das verpackt und hochgradig verarbeitet angeboten wird. Reich an raffinierten Zuckern und Stärke, hochgradig verarbeiteten Fetten und Natrium, sind diese Nahrungsmittel derart “designed”, dass sie als so wohlschmeckend empfunden werden, dass sie die normalen Sättigungssignale des Körpers ausschalten und einen übermäßigen Genuss fördern. Die 6 wichtigsten Kalorienquellen in der heutigen amerikanischen Ernährung [und somit zumindest im Ansatz in anderen westlich-industrialisierten Gesellschaften, Anm. d. Übersetzers] sind getreide-basierte Süßigkeiten (Kuchen, Kekse usw.), mit Hefe gebackene Brote, Hühnchengerichte (und damit ist kein Brathähnchen aus dem heimischen Ofen gemeint), gesüßte Getränke, Pizza und alkoholische Getränke. Dies sind keine steinzeitlichen Nahrungsmittel. Aber auch keine Nahrungsmittel, die irgendein Ernährungsexperte, gleich welchen Ernährungsdogmas, je empfehlen würde. Wenn also Paleo Vertreter bemerken, dass die moderne westliche Ernährung ungesund ist, dann haben sie absolut recht.

Vor- und Nachteile der Paleo Ernährung

Aber ist die Paleo Ernährung wirklich Paleo? Bedenke: Es gibt keine einzige “Paleo Ernährung”! Unsere Vorfahren lebten verteilt über die gesamte Welt, in sehr vielfältigen Umgebungen und aßen sehr vielfältige Lebensmittelzusammenstellungen.

Nichtsdestotrotz enthielten diese Ernährungen sicherlich mehr Gemüse und Obst als die meisten Menschen heute essen. Wenn wir also gesünder leben wollen, sollten wir tun, was unsere Vorfahren taten, und mehr davon essen. Richtig?

Vielleicht, aber nicht unbedingt wegen der Gründe, die Paleo Anhänger vorbringen.

Zunächst sind unsere modernen Obst- und Gemüsesorten nicht ansatzweise vergleichbar mit dem, was unsere Vorfahren aßen. Frühere Obst- und Gemüsesorten waren oft bitter, viel kleiner, schwerer zu ernten, und manchmal sogar giftig. Mit der Zeit haben wir Pflanzen gezüchtet, die die wünschenswertesten Eigenschaften mitbrachten: Die größten Früchte, mit dem süßesten Fruchtfleisch, mit den geringsten natürlichen Giftstoffen, die am leichtesten zu ernten waren. Wir haben außerdem viele neue Sorten von gemeinsamen pflanzlichen Vorfahren hervorgebracht (zB. mehrere hundert Kartoffel- oder Tomatensorten). Ähnlich sind die meisten modernen tierischen Lebensmittel auch nicht die gleichen. Ein Steak von einem Rind, selbst wenn es aus Weidehaltung stammt, ist nicht das gleiche, wie Fleisch von einem Bison oder einem Hirsch [oder einem Mammut, Anm. d. Übersetzers]. Und so weiter.

Das heißt natürlich nicht, moderne Pflanzenerzeugnisse oder modernes Fleisch sei grundsätzlich schlecht oder gut. Es ist einfach grundsätzlich anders als das, was in paleolithischen Zeiten verfügbar war. Die Empfehlung, mehr Obst, Gemüse und Fleisch zu essen, auf der argumentativen Grundlage, dass wir angepasst seien an diese Lebensmittel, ist also ein wenig dürftig. Denn was wir heute essen, existierte damals noch nichtmal.

Getreide und Gräser

Paleo Anhänger argumentieren, dass unsere Vorfahren nicht viel Getreide, Hülsenfrüchte oder Milchprodukte konsumiert haben können. Uns sie sagen, dass die 10.000 Jahre, seit wir das tun, nicht ausreichend waren, um uns an den Konsum dieser “neuen” Lebensmittel anzupassen. Dieses Argument klingt überzeugend, aber hält einer näheren Betrachtung nicht stand. Zunächst haben neuere Studien der Proceedings of the National Academy of Sciences unter Zuhilfenahme fortgeschrittener analytischer Methoden ergeben, dass unserer Vorfahren bereits begonnen haben könnten, Gräser und Getreide zu konsumieren, bevor die paleolithische Ära überhaupt anfing – und zwar vor ca. drei bis vier Millionen Jahren!

Weitere Forschungen haben Teile von Getreide und Gräsern in versteinerten Exkrementen von vor mindestens 105.000 Jahren gefunden. Gleichzeitig wurden Getreidepartikel auf Mahlwerkzeugen überall auf der Welt gefunden, was suggeriert, dass schon paleolithische Menschen vor etwa 30.000 Jahren eine verbreitete Praxis daraus machen, Getreide in Mehl zu verwandeln.

In anderen Worten: Die Idee, dass paleolithische Menschen niemals Getreide aßen, erscheint etwas übertrieben.

Sind Hülsenfrüchte wirklich ungesund?

Getreide ist nicht das einzige Lebensmittel, dass die Paleo Ernährung normalerweise ausschließt. Befürworter empfehlen normalerweise, auch Hülsenfrüchte (Bohnen, Linsen, Erdnüsse, Erbsen) zu vermeiden – aus ähnlichen Gründen.

Jedoch ist die Annahme, dass Hülsenfrüchte nicht weitverbreitet waren und verzehrt wurden falsch. Tatsächlich hat eine Studie von 2009 ergeben, dass unsere paleolithischen Vorfahren nicht nur Hülsenfrüchte aßen – sie waren sogar ein wichtiger Bestandteil ihrer Ernährung (selbst unsere Verwandten unter den Primaten, Schimpansen, essen Hülsenfrüchte). Hülsenfrüchte wurde an archäologischen Stätten überall auf der Welt gefunden und in einigen Fällen halten Wissenschaftler sie sogar für die vorherrschende pflanzliche Nahrungsquelle. Die Beweislage für den Verzehr wilder Hülsenfrüchte unter unseren paleolithischen Vorfahren ist so stark wie für alle übrigen Gemüsesorten!

Aber was ist mit den Anti-Nährstoffen?

Okay. Vielleicht haben unsere Vorfahren ein bisschen Getreide und ein paar Hülsenfrüchte gegessen. Das historische Argument ist also nicht stichhaltig.

Aber Paleo Vertreter haben einen weiteren Grund, diese Nahrungsquellen zu meiden: Ihren hohen Gehalt an Anti-Nährstoffen, der angeblich ihren Nährwert gegen Null minimiert.

Es gibt allerdings ein Problem mit dieser Behauptung: Sie ist falsch. Forschungsergebnisse deuten an, dass die Vorzüge von Hülsenfrüchten stark überwiegen verglichen mit ihrem Gehalt an Anti-Nährstoffen; vor allem in Hinblick auf die Tatsache, dass Kochen so ziemlich alle dieser Substanzen unschädlich macht. Lektine und Protease Inhibitoren im speziellen werden durch Kochen stark reduziert. Und sobald sie gekocht wurden, können diese Substanzen sogar gut für uns sein. Lektine könnten Tumorwachstum eindämmen, während Protease Inhibitoren anti-inflammatorisch und anti-carcinogen werden.

Phytinsäure

Aber was ist mit Phytaten? Getreide, Nüsse und Hülsenfrüchte enthalten große Mengen dieser Anti-Nährstoffe, die sich an Mineralien wie Zink oder Eisen binden und somit deren Aufnahme verhindern können. Sicher muss das doch Grund genug sein, Getreide und Hülsenfrüchte zu meiden.

Nicht zwingend.

Während Phytinsäure giftig sein kann, wenn wir zu viel davon essen [wie so ziemlich alles, Anm. d. Übersetzers], kann sie in moderaten Mengen sogar Vorteile bringen. Zum Beispiel:

• Anti-oxidantische Wirkungsweise

• Vorbeugung von DNA Schäden

• Prebiotische Wirkung (Nahrung für Bakterien im Verdauungstrakt)

• Anti-carcinogene Wirkung

• reduzierte Bioverfügbarkeit von Schwermetallen wie Cadmium oder Blei.

Somit ist in einer vielfältigen Ernährung reich an anderen nährstoffdichten Lebensmitteln Phytinsäure vermutlich unbedenklich. Denn so ziemlich alle Nahrungsmittel enthalten Anti-Nährstoffe – vor allem pflanzliche Nahrungsmittel.

Zum Beispiel sind sehr gesunde Lebensmittel wie Spinat, Mangold, viele Beeren und dunkle Schokolade reich an Oxalat, einem Anti-Nährstoff, der die Calcium Absorption verhindert. Und so weiter.

Insgesamt haben Phytinsäure und andere sogenannte Anti-Nährstoffe vermutlich eine “goldene Mitte” (wie so ziemlich alle Nährstoffe). Keine oder geringe Mengen zu verzehren wird folgenlos sein. Eine moderate Menge kann positiv sein. Zu viel kann schädlich sein.

Getreide und Entzündungen

Ein weiteres Paleo Argument ist, dass der Verzehr von Getreide zu Entzündungen und damit verbundenen Gesundheitsproblemen führen kann. Während das im Falle von Zöliakie-erkrankten Menschen stimmen kann (ca. 1% der Bevölkerung), sowie für jene mit nicht Zöliakie-bedingter Glutenunverträglichkeit (angenommen werden ca. 10% der Bevölkerung, falls sie wirklich existiert), unterstütz die Forschung im großen und ganzen dieses Argument nicht und nicht mehr als das Argument der Anti-Nährstoffe.

Beobachtungsstudien haben suggeriert, dass

• Vollkorngetreide Entzündungen mindern kann, aber

• Raffinierte Getreideprodukte Entzündungen fördern können.

In anderen Worten erscheint es so, dass die Weiterverarbeitung zu Problemen führt, nicht die Getreidepflanze selber.

Gleichzeitig ergeben klinisch-kontrollierte Studien regelmäßig, dass der Verzehr von Getreide, egal ob Vollkorn oder weiterverarbeitet keinen kausalen Einfluss auf Entzündungen ausübt.

Was können wir daraus ableiten? Im schlimmsten Falle ist Vollkorngetreide neutral in Bezug auf Entzündungen. Und insgesamt zeigen mehr und mehr Studien, dass der Verzehr von Vollkorngetreide und von Hülsenfrüchten positive Auswirkungen auf Gesundheitsmarker hat, wie etwa:

• verbesserte Blutlipidwerte

• stabilerer Blutzucker

• weniger Entzündungen

• geringeres Risiko von Schlaganfällen und Herzinfarkten

Diese wichtigen Nahrungsmittel aus ideologischer Überzeugung aus unserer Ernährung zu eliminieren ist vermutlich eine schlechte Idee.

Evolution des menschlichen Verdauungstrakts

In Paleo Kreisen wird oft argumentiert, dass während die Welt sich die letzten 10.000 Jahre stark verändert hat, unsere Gene dies nicht getan haben. Und dass wir somit nur in einer Welt wirklich gut leben können, die möglichst nahe die Bedingungen der paleolithischen Ära nachstellt.

Ehrlich gesagt ist das nicht, wie Evolution oder genetische Merkmalsausprägung funktionieren.

Wenn Menschen und andere Lebenswesen nur unter Bedingungen “florieren” könnten, die den Bedingungen unter denen ihre Vorfahren lebten ähneln, hätte das Leben auf der Erde nicht sonderlich lang fortgedauert. Beispiele davon, wie wir uns auch in den letzten 10.000 Jahren noch angepasst haben, gibt es reichlich. Zum Beispiel haben ca. 40% von uns über die letzten etwa 8.000 Jahre hinweg die Fähigkeit erworben, ein Leben lang Milchprodukte verdauen zu können. Als Spezies entwickeln wir eine Mutation, durch die wir fortdauernd das Enzym Lactase produzieren, so dass wir Lactose weitaus länger verdauen können als noch unsere Vorfahren. Ja, nicht jeder verträgt Lactose. Aber mehr von uns als jemals zuvor.

Und Studien zeigen, dass selbst Menschen, die Lactose nicht verdauen können dennoch in der Lage sind, moderate Mengen an Milchprodukten zu verdauen, solange sie nicht mehr als 12g Lactose auf einmal zu sich nehmen (etwa die Menge von knapp 250ml Milch). Zusätzlich zeigt die wachsende Wissenschaft der Epigenetik, dass Gene in Abhängigkeit von physiologischen Faktoren und solchen der Umwelt an- und abgeschaltet werden können [dazu gehört auch die Nutrigenomik, also die Forschung über Lebensmittel, die bestimmte Gene an- und abschalten, Anm. d. Übersetzers].

“Bauchgefühl”

Unser Verdauungssystem hat sich über Jahrtausende entwickelt, eine niedrig-energetische, nährstoff-arme und vermutlich ballaststoff-reiche Ernährung zu verarbeiten. Unterdessen wurde die westliche Ernährung energiereich, ballaststoffarm und fettreich.

Unsere Gene sorgen nur für die Enzyme, die notwendig sind, um Stärke, einfache Zucker, die meisten Proteine und Fette zu verdauen. Wird sind nicht an einen stetigen Strom von Chicken Nuggets, Kartoffelchips und Eiscreme angepasst.

Wie kommt es also, dass wir unsere Nahrung dennoch verdauen können, wenn auch manchmal nicht optimal? Danke den Billionen Bakterien, die in deinem Verdauungstrakt leben! Diese kleinen Kreaturen agieren auf vielfältige Weise mit unserer Nahrung und helfen uns, schwer verdauliche Pflanzenfasern zu verdauen, Anti-Oxidantien und Phytonährstoffe freizusetzen und viele wichtige Substanzen aufzunehmen. Wir haben keine direkten Beweise dafür, welche Bakterienstämme in den Eingeweiden unserer Vorfahren lebten, aber wir können ziemlich sicher sein, dass ihre mikrobiellen Bewohner sich von unseren heutigen unterscheiden würden.

Das liegt daran, dass Bakterien sich sehr viel schneller wandeln als unsere menschlichen Gene. Und für uns ist das gut. Denn es erklärt, warum wir gut mit Lebensmitteln wie Getreide, Hülsenfrüchten oder Milchprodukten leben können, selbst wenn die Ernährung unserer Vorfahren diese Dinge nicht beinhaltet hätte – mit ein bisschen Hilfe unserer bakteriellen “Freunde”.

Das magische Mikrobiom

Dank des Human Microbiome Project und anderen großangelegten Forschungsprojekten rund um den Globus wissen wir heute, dass Billionen von Mikroorganismen mehrerer Tausend Spezies unseren Körper bewohnen. Tatsächlich ist die genetische Bandbreite dieser Lebewesen mindestens 100 mal größer als unsere eigene (so dass wir auf gewisse Art nur 1% menschlich sind – stell dir das mal vor!).

Diese große genetische Vielfalt sorgt dafür, dass unser Verdauungstrakt sich schnell an Änderungen unserer Ernährung und Lebensweise anpassen kann. Schon eine einzelne Mahlzeit can die Zusammensetzung der Bakterien in deinem Verdauungstrakt verändern. Und nur wenige Tage mit einer neuen Ernährung können zu dramatischen Veränderungen führen. Die Vielfalt, Komplexität und Dynamik unseres Mikrobioms erklärt weiterhin, warum jeder mit einer anderen Ernährung optimale Ergebnisse einfahren kann. Auch wenn wir, bezogen auf unsere menschlichen Gene, 99% gleich sind!

Viele können also modernere Lebensmittel verdauen, auch wenn Paleo Anhänger das abstreiten – schlicht, weil unsere Eingeweide Bakterien beherbergen, die den Job für uns erledigen. Zum Beispiel haben Japaner mit ihrer traditionellen Ernährung einzigartigerweise Bakterien in sich, die ihnen helfen Algen/Seegras zu verdauen. Und viele können die Symptome von Lactose Intoleranz erleichtern, indem sie Nahrungsmittel reich an Probiotika (wie Joghurt) konsumieren, da sie lactose-verdauende Bakterien enthalten. Also selbst wenn wir Lactose natürlicherweise nicht gut verdauen, ist es möglich durch die richtige Kombination von Nahrungsmitteln oder durch Probiotika die Bakterien in unserem Verdauungstrakt derart zu beeinflussen, dass diese es für uns erledigen können. Die gleiche Strategie könnte zukünftig auch bei Glutenunverträglichkeit helfen. Aktuelle Forschungen zeigen, dass einige Bakterien Enzyme produzieren, die Gluten aufspalten können – ebenso wie Phytinsäure – und somit etwaige [angenommene, Anm. d. Übersetzers] inflammatorische und anti-nährstoffliche Effekte zu reduzieren. Was, wie wir nun wissen, wichtige Gründe sind, warum Paleo Ernährung überhaupt erst empfohlen wird.

Moderne Paleo Forschung

Egal von welcher Seite man es betrachtet: Die evolutionären Argumente der Paleo Anhänger sind nicht wasserdicht. Das heißt jedoch nicht, dass die Ernährungsform selber unbedingt schlecht ist. Vielleicht ist diese Ernährungsweise aus ganz anderen Gründen gut?

Um dies rauszufinden, haben einige Forscher Paleo in klinisch kontrollierten Studien erprobt. Bislang sind die Ergebnisse vielversprechend, wenn auch noch unvollständig.

Paleo VS. Die Mediterrane Ernährung

Einer dieser Forscher ist Dr. Lindeberg (der auch die Kitava erforschte). Er und seine Kollegen führten zwei Studien durch, welche die Wirksamkeit der Paleo Ernährung untersuchten.

In der ersten Studie wurden diabetische und prä-diabetische Freiwillige mit Herzerkrankungen herangezogen und auf zwei verschiedene Ernährungen gesetzt:

Eine Paleo Ernährung mit dem Schwerpunkt auf mageres Fleisch, Fisch, Obst, Gemüse, stärkehaltiges Wurzelgemüse, Eier und Nüsse.

Eine mediterrane Ernährung mit Vollkorngetreide, Milchprodukten, Gemüse, Obst, Fisch, Ölen und Margarine.

Nach 12 Wochen hatte die mediterrane Gruppe Körperfett verloren und sah eine Verbesserung der Diabetes Marker. Vier der neuen Teilnehmer hatten zu Ende der Studie normale Blutzuckerwerte. Dies war ein gutes Ergebnis. Die Paleo Gruppe schnitt jedoch noch besser ab. Diese Teilnehmer verloren 70% mehr Körperfett und hatten ebenfalls normalisierte Blutzuckerwerte. Alle zehn Teilnehmer, die zu Beginn der Studie diabetische Blutzuckerwerte hatten, schlossen die Studie mit normalen Werten ab! Das ist an in jedem Falle ein erstaunlich gutes Resultat. Diese Teilnehmer litten an mildem, frühen Diabetes.

Eine zweite Studie mit Langzeit Diabetiker zeigte, dass Paleo die Krankheit zwar nicht heilte, aber die Symptome signifikant linderte.

Andere Studien ergaben, dass:

• Die Paleo Ernährung je Kalorie sättigender war als die mediterrane Ernährung

• Die Paleo Ernährung Blutdruck, Glucose Toleranz und Blutlipidwerte verbesserte.

Jedoch gilt dies mit einer Einschränkung: Wie auch alle anderen Studien dieser Art, waren die Makronährstoffgehalte der beiden Vergleichsdiäten (insbesondere der Anteil von Protein) nicht aneinander angepasst. Die Paleogruppe aß deutlich mehr Protein. Viel Protein hilft, Magermasse zu erhalten und ein Sättigungsgefühl bei weniger Kalorien zu erzielen. Daher werden im Lichte dieses Proteinunterschieds nicht nur Äpfel mit Birnen, sondern eher Getreide und Hammelfleisch miteinander verglichen. [Zu dieser Problematik der nicht kalorien- und makronährstoffäquivalenten Vergleichsdiäten schrieb auch Alan Aragon (2013)]

Die Paleo Ernährung könnte durchaus die beste Empfehlung sein, aber es ist schwer zu sagen, solange die Vergleiche hinken.

Fazit und Empfehlungen

Was macht Paleo richtig?

Trotz der falschen evolutionären Theorie dahinter macht die Paleo Ernährung schlussendlich mehr richtig als falsch. Paleo fokussiert sich auf echte Nahrungsmittel, Protein, gemüse, Obst, Nüsse und Samen, sowie andere gesunde Fette – was eine massive Verbesserung gegenüber der normalen westlichen Ernährung darstellt. Paleo ist sehr effektiv zur Verbesserung der Symptome mehrerer Zivilisationskrankheiten. Das allein ist ein großes Plus. Paleo hat uns mehr daran erinnert, wie verarbeitet und beschissen [sic] unsere [industriellen] Lebensmittel des 21. Jahrhunderts sind.

Jedoch brauchen wir bessere und sauber vergleichende Studien, bevor wir definitive Schlüsse ziehen können.

Was sind die Herausforderungen?

Trotz ihrer deutlichen Vorzüge gegenüber der normalen westlichen Ernährung hat die Paleo Ernährung einige Nachteile.

Die Beweislage, um Getreide, Hülsenfrüchte und Milchprodukte auszuschließen ist (noch) nicht gegeben. Als Ernährungscoach kann ich also nicht sagen, dass der Ansatz für jeden passend ist. Sicherlich sollten manche Menschen Gluten oder Milchprodukte meiden, sowie Getreide und Hülsenfrüchte nur in moderaten Mengen verzehren. Aber die meisten von uns können Ästhetik, Leistung und Gesundheit verbessern, ohne diese Nahrungsmittel aus unserer Ernährung auszuschließen.

Die evolutionären Argumente sind nicht stichhaltig. Der menschliche Körper ist keine bloße Ansammlung von Anpassungen an die paleolithische Ära. Jeder von uns ist eine dynamische Ansammlung angeborener Merkmale und früh erworbener Mikroorganismen, die seit Beginn des Lebens überhaupt einem Wandel unterliegen. Dieser Wandel hat sich auch die letzten 10.000 Jahre fortgestetzt – und wird so schnell auch nicht aufhören.

In einem weiteren Sinne scheint das Befolgen einer Liste “guter” und “schlechter”, oder “erlaubter” und “nicht erlaubter” Nahrungsmittel für die meisten Menschen problematisch zu sein. Dieser Ansatz führt zu Besorgnis und zu einem schwarz-weiß Denken. Vielleicht gibt es uns kurzfristig eine gewisse (falsche) Sicherheit. Aber es ist langfristig weniger effektiv, da schließlich die Beständigkeit leidet. Vielleicht sehen wir auch deshalb die Evolution der Paleo Ernährung selber.

Evolution, Baby!

Viele Paleo Befürworter haben sich in der jüngeren Zeit dafür ausgesprochen, moderate Mengen an Stärke (auch wenn meiner Meinung nach aus unnötig limitierten Quellen), sowie dunkle Schokolade, Rotwein oder Alkohol aus anderen Grundlagen als Getreide (zB. Tequila) oder auch Milchprodukte aus Weidehaltung zu konsumieren. Denn diese Optionen machen das Leben angenehmer und gesunde Ernährung attraktiver und leichter durchzuhalten.

Dieser neue “Spielraum” könnte erklären, warum die Paleo Ernährung weiter Boden im Ernährungsmainstream gewinnt.

Schlussendlich sind Moderation, geistige Gesundheit und persönliche Präferenzen wichtiger als spezifische Nahrungsmittellisten, das Vermeiden von Anti-Nährstoffen oder Evolutionstheorien.

Was du jetzt tun kannst

• Denke an die positiven Aspekte des Höhlenmenschen Lebensstils. Diese beinhalten frische, echte Lebensmittel, frische Luft, viel Bewegung, reichlich Schlaf und ein starkes soziales Netzwerk. Finde Wege diese Aspekte heute ein wenig zu verbessern.

• Überlege wie du dich auf dem Spektrum – zwischen 21. Jahrhundert und der paleolithischen Ära – ein wenig mehr zu dem bewegen kannst, wofür dein Körper gemacht ist.

• Lerne mehr über das Leben deiner Vorfahren. Evolution ist cool. Wo kamen deine Vorfahren her? Wie sah ihre Ernährung aus?

• Halte die Dinge einfach und vernünftig. Einige gute Dinge ziemlich gut zu tun (zB. mehr zu schlafen und mehr Gemüse essen) kann bessere Effekte haben, als zu versuchen alle möglichen Dinge “perfekt” zu machen.

• Bleib kritisch und informiert. Vermeide Dogmatismus oder Sektendenken. Bleib skeptisch. Suche nach Beweisen. Hinterfrage alles. Paleo ist eine supercoole Idee und könnte auch mehr oder wenig richtig liegen; aber halte deinen spät-entwickelten präfrontalen Kortex (dein “denkendes” Hirn) im Rennen und denke über alle Faktoren nach.

• Hilf deinem Körper und deinen Billionen kleinen Freunden ihren Job zu erledigen. Unsere Körper sind widerstandsfähig. Wir wurden nicht die dominante Spezies auf diesem Planeten, indem wir anfällige, zarte kleine Pflänzchen waren. Nichtsdestotrotz: Denke darüber nach, wie du deinen Körper optimal versorgen kannst, um ihm und deinem Mikrobiom die beste Chance für ein erfülltes (Über-)Leben zu geben.

Originaltext: Brian St. Pierre für Precision Nutrition

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